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Symbolbild: Gerd Altmann/pixabay.com
Crime

Kindesmissbrauch: Wasserpferde sind keine Flusspferde

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Übersehen in einem Missbrauchsfall im Saarland Ermittler und Justiz ein verstörendes Detail, das den Fall in ein abweichendes Licht rücken könnte?

Von Michi Jo Standl

+++ Update 10. Dezember 2020: Der Angeklagte wurde zu über sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Lesen Sie mehr dazu hier. +++

Saarbrücken. „Dreh Dich um und zähle Wasserpferde!“ So oder so ähnlich soll der 30-jährige H. S. zwei Kinder – ein Mädchen (11) und einen Jugen (12) – vergangenes Jahr dazu gebracht haben, während des Missbrauchs des jeweils anderen wegzuschauen. Ein adretter „Frauentyp“ mit ausdrucksstarken Augen. Unter anderem an diesen haben ihn die Kinder mithilfe der sogenannten Wahllichtbildvorlage im Rahmen der polizeilichen Vernehmung identifiziert. Bei dieser Methode werden Zeugen digital erzeugte Fotos von Personen, die es nicht gibt, vorgelegt – darunter ein reales Foto des Tatverdächtigen. Die moderne Form der Gegenüberstellung. Den Kindern soll S. erzählt haben, er sei 16. In einem Video in einer Social Media-Community, die vor allem sehr junge User anspricht, gibt er sich betont kindlich.

Laut storyrecherche.de-Informationen sollen die Kinder, die damals beide in einer Wohngruppe des „Haus Christophorus“ im Saarlouiser Stadtteil Fraulautern gelebt haben, den Beschuldigten schon vor dem angeblichen Tatzeitpunkt gekannt haben. Er soll ihnen „Geschenke“ in Form von Getränken und zumindest einmal eines Spielzeuges gemacht haben. Der Beschuldigte war nicht in der Einrichtung beschäftigt, soll die Kinder auf der Straße angesprochen haben.

Seit April wird der Fall vor dem Saarbrücker Landgericht verhandelt – Termine, Termine, Termine – mal kurz, mal über Stunden. Für Juli und August sind vorerst noch zwei Verhandlungen angesetzt, an denen der Beschuldigte zusammen mit seinem Verteidiger Michael Rehberger in dem alterwürdigen Haus mit integriertem Neubau in der Franz-Josef-Roeder-Straße mit Blick auf die unschuldig schleichende Saar erscheinen muss – mal im nüchternen Saal 1, mal im feudalen, eher an eine Kirche erinnernden, Saal 38, der Anfang des Jahrtausends durch den quälenden Pascal-Prozess traurige Berühmtheit erlangte.

Herausforderung für Psychologen

In einer mit dem Smartphone aufgenommenen Audiodatei, in der die Mutter des Jungen, Anne C., ihren Sohn von dem schockierenden Vorfall berichten lässt, erwähnt dieser die Wasserpferde, die er und das Mädchen zählen sollten. Die Aufnahme liegt storyrecherche.de vor. Gegenüber der Polizei hat das Opfer das verstörende Detail wiederholt. Sowohl die Ermittler als auch die Strafkammer und die Anwälte bewerten die Aussage realistisch, können aber offenbar mit dem Begriff nichts anfangen. Zumindest geben das die Prozessbeteiligten zu erkennen. „Er meinte wohl Flusspferde“, so der Kripobeamte Tobias B., der die jungen Opfer während der Ermittlungen befragt hatte, bei seiner Zeugenaussage vor der Strafkammer. Der Begriff liegt immer wieder wie ein halbtransparenter Schleier, der sich jeden Moment zu lüften droht, über dem Sitzungssaal.

Das Tier mit dem großen Maul in einem Kinderzählspiel? Obwohl: Niedlich kann es ja sein, wenn man an Happy Hippo eines Schokoladeherstellers oder die Handpuppe Amanda des fränkischen Comedians Sebastian Reich denkt. Aber nein! Eine noch so intensive Recherche ergibt nichts, das auf Flusspferde in Zusammenhang mit Kinderspielen hinweist. Wasserpferde sind ganz andere Tiere, vielmehr Wesen. Allerdings nur in der Phantasie. Sie leben im Gegensatz zu Flusspferden nicht in Afrika, sondern in der nordischen und britischen Mythologie. Alleine das Lesen der Beschreibung in Online-Lexika bereitet Gänsehaut, vor allem im Zusammenhang mit dem Verführen und dem Missbrauch von Kindern. Ritueller sexueller Missbrauch kommt immer wieder vor. Real, aber auch in wirren Gedankenwelten. Bislang weist nichts auf derartige Phantasien des Beschuldigten hin. Es sollte aber über das eine Wort gesprochen werden. Was meinte der Tatverdächtige damit, warum sprach er von Wasserpferden? Ein Detail, das eine Rolle spielen sollte. Alles trägt zur endgültigen Aufklärung einer Straftat bei. Das „Warum?“ ist vor allem für Psychologen und die Prävention von Interesse.

Die Saarbrücker Rechtsanwältin Rosetta Puma, die Anne C. als Nebenklägerin vertritt, erwartet für den Angeklagten eine mehrjährige Haftstrafe, wie die Mutter des Jungen mitteilte. Ein psychiatrisches Gutachten vom Beschuldigten sei nicht angefertigt worden, erklärte eine Gerichtssprecherin Anfang Juli gegenüber storyrecherche.de.

Täuschend schöner Schein

In Schottland heißen sie Each Uisge oder Kelpie, in der irischen Mythologie Aughisky: Die Wasserpferde. Auch in Skandinavien erzählt man sich Geschichten über die Wesen. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie können ihre Gestalt verändern, um ihre Opfer zu täuschen. Sie machen sich schöner als sie tatsächlich sind. Kelpies sollen an Gewässern auf ihre Opfer warten, vorwiegend auf Kinder – meist in Form eines wunderschönen Pferdes. Durch die prächtige Gestalt sollen ihre nichtsahnenden Opfer verlockt werden, aufzusteigen. Dann verschwinden sie im Wasser und sollen ihre nichtsahnenden Reiter ertränken und aufessen. So sagt es die Legende.

Opfer vergleicht Täter mit Wasserpferden

Der heute 37-jährige schottische Schauspieler, Comedian und Autor Matthew McVarish wurde als Kind jahrelang von seinem Onkel missbraucht. Was Matthew nicht gewusst hatte: Der Lehrer und Fußball-Jugendtrainer hatte sich auch an seinen zwei Brüdern vergangen. Die Tortur an den Geschwistern dauerte insgesamt von 1976 bis 1996 – 20 fürchterliche Jahre. Matthew musste den Missbrauch zehn Jahre lang ertragen. „Er hatte keine Gewalt angewendet“, wird Matthew später in einem Interview mit der schottischen Boulevardzeitung „Sunday Mail“ erzählen. „Er hat mir Spielzeug gekauft, er lachte, und scherzte immer.“ Doch da war noch die andere Seite – die dunkle, die grausame, die perverse. Die zwei Gesichter vieler Täter – der schöne Schein und die grausame Realität – erinnern Matthew laut eigener Aussage an Kelpies, die Wasserpferde.

Erst Jahre später nach einem Zusammenbruch seines Bruders machte Matthew die Qual öffentlich. Die Familie wusste zwar von den Vorfällen, hatte aber ein Familiengeheimis daraus gemacht. 2010 wurde der Onkel zu sechs Jahren Haft verurteilt. Inzwischen ist er verstorben.

Die furchtbaren Jahre haben den Schotten zu einem Buch und Theaterstück mit dem Titel „To Kill a Kelpie“ (dt. „Ein Kelpie töten“) inspiriert. Ein Brüderpaar wird darin von ihrem Onkel missbraucht. Er droht den Zwillingen, dass er sie an ein Kelpie verfüttert, falls sie jemanden davon erzählen. Abweichend vom tatsächlich Erlebten – aber Matthews Weg das Unfassbare zu verarbeiten. Heute engagiert er sich gegen sexuellen Missbrauch an Kindern. 2013 startete er in London eine 20 Monate dauernde Wanderung gegen Kindesmissbrauch, die ihn 16.000 Kilometer durch Europa führte – standesgemäß im blauen Kilt.

Warum der Beschuldigte im langwierigen Prozess in Saarbrücken gegenüber den Kindern „Wasserpferde“ erwähnt haben soll, wie belesen er ist oder tatsächlich einfach nur Flusspferde meinte, wird wohl auch nach dem Urteil unbeantwortet bleiben.

Michi Jo Standl
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