Pascal seit 21 Jahren vermisst: Jahrzehnte der Ohnmacht [mit Bildergalerie]
Am 30. September 2001 verschwindet in Saarbrücken der damals fünf Jahre alte Pascal Zimmer spurlos – bis heute viele Fragen, mutmaßliche Missverständnisse und Wut.
Ein Feature von Michi Jo Standl
Jetzt lesen:
- So hat Pascals Tante Sigrid Hübner den schrecklichen Tag des Verschwindens erlebt.
- Die Suche nach Pascal begann mit einem Fehler.
- Für Pascals Freund Bernhard Müller ist der September immer besonders schwer – auch er wurde missbraucht.
- Mobbing gegen Bernhard Müller
- Warum Saarbrückens ehemalige Oberbürgermeisterin Charlotte Britz den „Gedenkstein gegen das Vergessen“ nicht wollte – und damit unrecht hatte.
Saarbrücken. September 2001: Die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September in New York sind gerade mal 19 Tage her, die Welt noch immer in Schockstarre. „Ich habe das im Fernsehen verfolgt, konnte alles kaum glauben“, erzählt Sigrid Hübner. Doch als an jenem verregneten, aber herbstlich-warmen Sonntag Ende September ihr Telefon klingelt, sollte sich nicht nur ihr Leben für immer verändern. Einer der spektakulärsten, bis heute ungeklärten Kriminalfälle Deutschlands nimmt seinen Anfang. Trotz fehlender Aufklärung – ja, man muss es so nennen – ein furchtbares Verbrechen. Am anderen Ende berichtet Hübners Schwester, Sonja Zimmer, dass deren fünf Jahre alter Sohn Pascal nicht nach Hause gekommen sei. Kein Weltgeschehen, keine Zeitgeschichte, kein internationaler Terror im Saarbrücker Stadtteil Burbach: Einfach ein vermisster Junge, dessen Verschwinden für viele unerträglich ist und Fragen aufwirft, die sich zwei Jahre später bis ins Unfassbare multiplizieren wird und im Laufe der Jahre zahlreiche Journalisten und Autoren zu Zeitungsartikeln, Büchern und sogar ein Theaterstück inspirieren werden. Antworten findet niemand, nur noch viel mehr Fragen.
„Ich hatte das Gefühl, in einen schwarzen Trichter zu fallen“
„Der Anruf kam so etwa um 18 Uhr“, erzählt Hübner. „Meine Schwester war ganz aufgelöst.“ Pascal sei verschwunden. Sie fährt sofort von ihrer Wohnung in Saarbrücken-Altenkessel in den benachbarten Stadtteil Burbach. „Ich erinnere mich ganz verschwommen“, so die Saarländerin. „Wir haben bis in die Nacht hinein nach Pascal gesucht, herumgefragt, Bilder gezeigt, irgendwann war die Polizei dabei“, erzählt Hübner. Auch einen Fauxpas hat sie nicht vergessen: „Irgendjemand hat den Beamten noch zu allem Übel ein falsches Bild von Pascal gegeben.“ Der Beginn einer langen Kette von Fehlern, die sich bis zum Urteil hinziehen sollte.
Zahlreiche Helfer aus der Bevölkerung beteiligen sich an der Suche. Keine Spur von Pascal, weder auf der nahegelegenen Kirmes, auf der er vermutet wird, noch sonst wo in der Umgebung der Hochstraße, in der er zu diesem Zeitpunkt mit seiner Mutter und seinem Stiefvater Karl-Heinz Coen lebt. „Ich bin nachts wieder zu meiner Schwester gefahren, um ihr beizustehen“, so Hübner. „Es war die Hölle.“ Es folgen großangelegte Suchaktionen – ohne Ergebnisse. Pascal bleibt verschwunden. Sie hatte das Gefühl, „in einen schwarzen Trichter zu fallen“, wie sie erzählt. Dieser emotionale Zustand wird sie noch jahrelang begleiten.
„Irgendjemand hat den Beamten noch zu allem Übel ein falsches Bild von Pascal gegeben.“
Sigrid Hübner, Pascals Tante
Pascals Tante Sigrid Hübner: „Ich bin vom Urteil enttäuscht“
2002 die Wende: Ein sechsjähriger Junge aus Burbach vertraut sich seiner Pflegemutter an. Sein Name: Bernhard Müller, ein Spielkamerad Pascals. Er sei in einer Kneipe in der Burbacher Hochstraße sexuell missbraucht worden. Die „Tosa-Klause“, die seit 19 Jahren immer wieder beschriebene Schmuddelkneipe das Interesse von Ermittlern. „Zu diesem Zeitpunkt stellte man keine Verbindung dieser Vorfälle mit Pascal her“, erinnert sich Hübner. „Ich habe das mitbekommen, zuerst schrieb die Bildzeitung darüber.“ Pascal kommt erst im Laufe der Ermittlungen ins Spiel. Die Wirtin der Kneipe und eine Hand voll Stammgäste geraten in den Fokus der Polizei. Sie sollen, so der damalige Verdacht der Ermittler, Pascal in der Klause missbraucht und getötet haben. Eine der Verdächtigen: Bernhards – sein Name war lange Zeit öffentlich nicht bekannt – echte Mutter. Die Angeklagten gestehen mit nahezu identischen Aussagen, widerrufen diese aber später. Das Problem: Die Polizei findet in der Kneipe keinerlei Spuren. Nur Peter S. bleibt bei seinem Geständnis – was Missbrauch betrifft. Er wird 2003 in einem abgetrennten Verfahren zu sieben Jahre anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Er soll sich noch heute in einer forensischen Klinik befinden. Am 20. September 2004 beginnt der Hauptprozess gegen die Wirtin und 11 ihrer Gäste – ein Indizienprozess, der einer der aufsehenerregendsten und bekanntesten Strafprozesse der deutschen Kriminalgeschichte werden wird. Am 7. September 2007 der Freispruch aller Angeklagten, den der Bundesgerichtshof 2012 bestätigte.
Sigrid Hübner nimmt oft als Zuschauerin an den Gerichtsverhandlungen teil. Vom Urteil ist sie heute noch enttäuscht und macht sich auch Gedanken über die deutschen Gesetze: „Was ist, wenn sich durch neue Hinweise doch noch der Mordverdacht gegen einzelne damals Angeklagte bestätigt? Dann können sie nicht mehr wegen Mordes belangt werden.“ In Deutschland kann man derzeit nicht zweimal wegen des gleichen Deliktes angeklagt werden. Mit der Hochstraße hat sie schon lange nichts mehr zu tun. Noch vor dem Prozess ziehen Pascals Mutter und sein Stiefvater Karl-Heinz Coen zu Hübner und ihrem damaligen Mann in ein neu bezogenes Haus in Altenkessel. Sie erleben die Urteile nicht mehr. Im Juni 2004 stirbt Sonja Zimmer im Alter von 46 Jahren an einer Gehirnblutung, zwei Wochen später Coen 50-jährig in einer Kneipe in Püttlingen während einer Schlägerei – offizielle Todesursache: Herzinfarkt.
Pascal bleibt bis heute verschwunden. Zahlreiche Hinweise verlaufen im Sand – darunter einer, demzufolge er heute im Ausland leben soll. Verschleppt oder ermordet? Der Fall bleibt bislang mysteriös.
Pascals Freund Bernhard Müller: „Jedes Jahr im September wird mein Herz besonders schwer“
Bernhard Müller, von Medien lange Zeit „Berni“ genannt, entscheidet sich 2017, an die Öffentlichkeit zu gehen – mit Gesicht und vollem Namen. Es soll ebenfalls missbraucht worden sein. Ein Schritt, der für ihn einerseits eine persönlich Therapie ist, andererseits sein Leben verändert. In eine Stele zur Erinnerung an Pascal und alle missbrauchten Kinder meißelt er unter Anleitung des Künstlers Bruno Harich:
„Lieber Pascal, wir beide waren noch so klein, als wir das Allerschlimmste, den Missbrauch an uns Kindern, erleben mussten. Jetzt lebe ich mit diesen schmerzhaften Erinnerungen, die mich nicht loslassen wollen – und du bist nicht mehr da. Ich bewahre dich in meinem Herzen, dein Freund B. M.“
Der „Gedenkstein gegen das Vergessen“ war einige Jahre vorher von der „Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kinder und Jugendlichen“ des Westerwälders Johannes Heibel initiiert worden. Das Schicksal seines Freundes lässt Bernhard bis heute nicht los. „Wenn ich an Pascal denke, wird mein Herz schwer. Vor allem der September ist für mich ein sehr schwerer Monat“, sagt der heute 26-Jährige. Und jetzt ist wieder der eine für Bernhard besonders schlimme Monat. „Manchmal habe ich so Augenblicke, in denen ich glaube, dass Pascal noch lebt“. Wenn er heute eine TV-Dokumentation über den Fall sieht, macht ihn das wütend und traurig. Er findet aber gut, dass berichtet wird. An die damalige Zeit erinnert er sich kaum.
Er sagt damals im Prozess aus. Die Angeklagten bekommt er nicht zu Gesicht, wird per Video in den Gerichtssaal zugeschaltet. Seine echte Mutter besucht er einmal in der Justizvollzugsanstalt. „Danach wollte ich keinen Kontakt mehr“, sagt Bernhard. Seit seinem Schritt an die Öffentlichkeit sieht er sich auch mit Kuriosem konfrontiert. „Mich kontaktieren ganz viel liebe Leute, aber auch solche, die Schindluder betreiben wollen“ – Wunderheiler, Hellseher. Er hat eine Langzeit-Therapie hinter sich, heute macht er das nach Bedarf. Seit 2011 bekommt er Geld aus dem Opferentschädigungsfond.
Bernhard Müller sah sich seit seinem Schritt in die Öffentlichkeit immer wieder mit Cybermobbing konfrontiert. Menschen glauben nicht an sein Schicksal. Wie er damit umgeht, erzählte er im Interview mit küchenzuruf.de.
Kinderschützer Johannes Heibel: „Über Pascal muss immer berichtet werden“
Johannes Heibel macht der „Fall Pascal“ heute noch nachdenklich und sprachlos. Er hat den Jungen nicht persönlich gekannt, ist auf den Fall erst nach dem Prozess durch einen Artikel im Magazin „Emma“ aufmerksam geworden. Im Interview mit Alice Schwarzer gab Bernhards Pflegemutter Esther Fehrer ihrem Pflegekind und Pascal eine Stimme. „Ich war so fasziniert von der Frau, den Mut aufzubringen, sich mit vollem Namen und Gesicht sich zu zeigen.“ Durch den Kontakt mit Fehrer beschäftigte er sich weiter mit dem Schicksal Pascals. „Dass der Fall bis heute nicht aufgeklärt ist zeigt, dass einiges im Argen liegt und vermittlungstechnisch einiges schief lief damals“, sagt Heibel. „Die Freisprüche muss muss man in einem Rechtsstaat erst einmal akzeptieren.“ In Ruhe gelassen haben ihn die ganzen Ereignisse aber nicht.
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Johannes Heibel startete mit seinem Verein einige Aktionen. Er hat nicht nur Bernhard Freizeitaktivitäten ermöglicht. Der Gedenkstein soll auf das Geschehene aufmerksam machen. Eigentlich sollte die Stele mit Bernhards Inschrift in Saarbrücken, dem Ort der Geschehnisse, stehen. Heibel schrieb der damaligen Oberbürgermeisterin Charlotte Britz mit der Bitte um ein Gespräch über einen eventuellen Standort. Für ihre Reaktion zeigt Heibel bis heute Unverständnis. Die Politikerin lehnte ein Gespräch mit der Begründung ab, dass es nicht bewiesen sei, dass jemand missbraucht worden sei. „Peter S. Ist rechtskräftig wegen sexuellen Missbrauchs an Pascal, Bernhard und einem Mädchen verurteilt worden. Ihre Aussage ist skandalös.“ Er hat nach dieser Äußerung erwartet, dass sich Britz für ein Wiederaufnahmeverfahren einsetzt. „Denn laut ihrer Aussage müsste S. im Umkehrschluss ja unschuldig sein“, so Heibel. Er appelliert auch an die Medien, die aus seiner Sicht bei Britz nachhaken hätten müssen. „Solange Pascals Schicksal nicht geklärt ist, sollte der Fall auch immer in den Medien ein Thema sein.“ Vergessen geht nicht. Auch nach 20 unerträglichen Jahren. Der Gedenkstein steht heute auf dem Friedhof im saarländischen Örtchen Schwalbach.
Was derzeit bleibt, sind 21 Jahre Ohnmacht, unmissverständliche Hilflosigkeit und viele Fragen, die dringend Antworten benötigen.
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