Tödlicher Schulweg: Eiskalter Mord an Mädchen (8) seit 50 Jahren ungeklärt
Vor 50 Jahren wurde im Salzburger Land ein Schulmädchen brutal mit ihrem eigenen Kopftuch erwürgt und in einen Graben geworfen. Der Täter: Bis heute unbekannt!
- Ungeklärter Mord an Rosa (8): Tragische Ereignisse überschatten am 14. Januar 1972 ein österreichisches Dorf
- Langjähriger Mordermittler erklärt im exklusiven K’RUF-Interview: Deshalb sind alte Fälle schwierig aufzuklären
Von Michi Jo Standl
„Selbst der Totengräber, der schon bei vielen Begräbnissen zugegen war, weinte am Dienstagvormittag, als ein hunderte Menschen umfassender Konvoi der kleinen Rosa […] aus Obertrum die letzte Ehre erwies“, schreibt die österreichische Arbeiter-Zeitung am 19. Januar 1972. Obertrum am See: Ein beschaulicher Ort unweit der glänzenden Festspielstadt Salzburg, geprägt von Landwirtschaft, kein typischer Ort für grausame Verbrechen. Damals rund 2.000 Einwohner, heute sind es gut doppelt so viele. Fünf Tage zuvor nehmen die schrecklichen Ereignisse ihren Lauf.
Große Sorge: Ein Dorf auf der Suche
14. Januar 1972 – wie genau 50 Jahre später auch ein Freitag – 15 Uhr: Die acht Jahre alte Rosa macht sich nach dem Flötenunterricht von der Schule im Obertrumer Ortsteil Au auf den Heimweg. Sie verabschiedet sich vor dem Gebäude von Schulfreunden. Das Thermometer zeigt knapp unter null Grad, Schnee liegt nicht. Ein Trachtentuch, das sie über dem Kopf trägt, schützt sie vor der klirrenden Kälte. Ihre Mutter hatte es ihr morgens umgebunden. Ein Junge begleitet Rosa ein Stück. Die anderen brechen in die entgegengesetzte Richtung auf. Die Volksschule besteht heute nicht mehr. Sie wurde 1974 geschlossen.
Rosa hat einen knapp zwei Kilometer langen Fußmarsch vor sich, eine halbe Stunde. Vor ihr ragt der knapp über 800 Meter hohe Haunsberg mit der mächtigen Kaiserbuche – der Baum fiel 2004 einem Sturm zum Opfer – in den winterlichen Nachmittagshimmel. Ihr Weg führt das aufgeweckte Mädchen eine Straße entlang, die heute noch die Region jenseits des Haunsberges an der Grenze zu Bayern mit dem Salzburger Seenland verbindet. Zu ihrer rechten Seite ein kleines Waldstück. In der Senke schlängelt sich der Angerbach durch teils dichtes Gebüsch. Ihr Elternhaus schon fast in Sichtweite. Die Mutter wartet mit dem Essen.
Der Nachmittag verstreicht. Minute um Minute, Stunde um Stunde. Rosa trifft nicht zuhause ein. Manche Kinder lassen sich gerne Zeit auf dem Heimweg, stromern, lassen sich von Entdecktem ablenken. Nicht so Rosa, sie ist immer pünktlich. Umso mehr machen sich ihre Eltern Sorgen. Schließlich begibt sich der Vater zusammen mit ein paar Nachbarn auf die Suche – ohne Ergebnis. Die Sorge um Rosa muss ins Unerträgliche gestiegen sein, damals in dem beschaulichen Dorf.
Traurige Gewissheit: Rosa ist tot
Über das Salzburger Alpenvorland legt sich die Nacht. Rosa bleibt verschwunden. Letztendlich verständigen die Eltern die Gendarmerie – bis 2005 in Österreichs ländlichen Regionen für polizeiliche Aufgaben zuständig, heute in die Bundespolizei integriert. Feuerwehrmänner und Leute aus dem Dorf beteiligen sich mit Scheinwerfern an der Suche, durchstreifen die Umgebung zwischen Schule und Elternhaus. Um 19 Uhr der Schock: 500 Meter von der Schule entfernt findet ein Nachbar der Familie Rosa tot im Graben, erwürgt mit ihrem eigenen Tuch.
Erste Hinweise: Der unheimliche Brillenträger
Die Kriminalabteilung der Gendarmerie nimmt die Ermittlungen auf und geht jedem Hinweis aus der Bevölkerung nach. Schulkinder wollen einen hellen Renault mit Salzburger Kfz-Kennzeichen gesehen haben – einen R8 oder R10. Die Halter aller infrage kommenden Fahrzeuge werden überprüft. Auch auf einen dunkelhaarigen Mann mit Brille und rotem Pullover werden die Ermittler aufmerksam gemacht. Dieser wird in unabhängigen Aussagen von Kindern und Erwachsenen beschrieben.
Währenddessen rekonstruieren die Ermittler aufgrund von Zeugenaussagen einen möglichen Tathergang: Der Täter soll demnach entgegen Rosas Heimweg an ihr vorbeigefahren sein, an der Schule gedreht, zurückgefahren und etwa 100 Meter von Rosa entfernt gehalten haben. Obwohl die Obduktion ihrer Leiche ergibt, dass der Täter keine sexuellen Handlungen an dem Mädchen vorgenommen hat, gehen die Ermittler davon aus, dass er das vorhatte. Wurde er gestört und von wem? Waren ihm die geringe Entfernung zur Schule und den einzelnen Häusern in Sichtweite zu gefährlich? Näherte sich ein Auto?
Offenbar um die geplante Tat zu vertuschen, legt er Rosa ihr eigenes Tuch um den Hals, zieht zu, macht drei Knoten und lässt sie sterben. Danach wirft er das Mädchen in den Graben, in dem der Bach fließt.
Schlimmer Verdacht: Der seltsame Arbeitskollege
Die Gendarmerie geht hunderten Spuren nach, ohne einen konkreten Tatverdacht. Ein Hinweis lässt einen der leitenden Ermittler aufhorchen. Der Hinweis kommt von Walter F. (Name geändert). Er arbeitet zu dem Zeitpunkt in einer Firma im angrenzenden Bayern. Wie auch Manfred N. (Name geändert). N. gilt unter Kollegen als “seltsam”. Walter F. erinnert sich an den Tattag: “Manfred war an dem Tag, an dem der Mord geschah, unentschuldigt nicht zur Arbeit erschienen. Am nächsten Tag fragten wir ihn eher scherzhaft, ob er von dem Mord gehört habe und ob er damit am Ende etwas zu tun habe. Daraufhin fing er zu schwitzen an, sagte nichts.”
Walter F. teilt das Verhalten seines Kollegen einem Ermittler mit. Aus heutigen Polizeikreisen heißt es: „N. wurde damals befragt. Das hat aber nichts ergeben.” Walter F. schaudert es heute noch: Manfred N.s Hobby waren laut dessen eigener Aussage Spazierfahrten mit seinem Auto im Flachgau (Anm.: der Bezirk, in dem Obertrum liegt). Heute würde man sagen: Er cruiste gerne. N. war Brillenträger, trug meistens Rollkragenpullover und hatte dunkle Haare mit hohem Haaransatz. Und: Er fuhr einen hellen VW Käfer. Haben Rosas Schulfreunde das Auto, das sie in Tatortnähe gesehen hatten, zu wenig genau beschrieben? Studien belegen, dass Kinder bei Zeugenbefragungen Gesehenes unter Umständen verzerrt oder falsch wiedergeben – abhängig von der Vernehmungsmethode und den Fragen des Ermittlers.
N. wurde 1942 im so genannten SS-Umsiedlungslager in Schelklingen bei Ulm geboren – Vater unbekannt, zumindest behördlich. Seine Mutter stammt aus Slowenien. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Jugoslawien wurden von dort tausende Menschen nach Deutschland verschleppt, um in Lagern zu “germanisieren”. So wohl auch N.s Mutter. Nach dem Krieg landete die Frau mit ihrem Kind im Grenzdurchgangslager Piding bei Bad Reichenhall. 1960 bezog sie eine Wohnung in der bayerischen Grenzstadt Freilassing, etwa 20 Kilometer vom späteren Tatort entfernt. Manfred ist inzwischen 18 Jahre alt, lebt noch immer mit seiner Mutter zusammen, auch noch 1972. Hat er in den Wirren im und nach dem Krieg selbst Schlimmes erlebt? Wurde N. in einem Lager missbraucht oder musste er zusehen, wie seine Mutter vergewaltigt wird? Während und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu Massenvergewaltigungen.
Laut Studien werden viele Missbrauchsopfer selbst zu Tätern.
Weitere Fälle: Angst um Salzburgs Kinder
Anfang der 1970er Jahre kommt es im Umland der Stadt Salzburg zu weiteren schrecklichen Taten. Vergewaltigungen und versuchte Vergewaltigungen von Schulkindern im Alter zwischen sechs und 14 Jahren beschäftigen die Behörden. In Elsbethen, einem kleinen Ort direkt vor den Toren der Mozartstadt, wird ein Mädchen in Rosas Alter in ein Auto gezerrt, betäubt, vergewaltigt und brutal aus dem Auto geworfen.
Die Verbrechen an Kindern in Salzburg sind im Dezember 1972 sogar Thema im österreichischen Parlament im fernen Wien. Die damalige Nationalratsabgeordnete Helga Wieser (ÖVP) sorgt sich um die Sicherheit der Kinder in ihrem Bundesland Salzburg und ergreift das Wort in Richtung des damaligen Innenministers Otto Rösch (SPÖ, † 1995): “Herr Minister, diese Verbrechen geschahen am helllichten Tage und erfüllen uns mit größter Sorge, ja mit großer Angst.”
Mord an Rosa: Eines von 200 ungeklärten Tötungsdelikten
Laut österreichischem Bundeskriminalamt (BK) sind in Österreich rund 200 Tötungsdelikte der letzten 50 Jahre bislang nicht aufgeklärt. Manche werden von den Beamten des 2010 gegründeten Cold-Case-Managements immer wieder auf neue Hinweise überprüft – so auch der Mord an Rosa. “Derzeit werden in diesem Fall keine Ermittlungen geführt”, so eine BK-Sprecherin. Bei neuen Hinweisen würden die Ermittlungen wieder aufgenommen werden.
„Bei neuen Hinweisen werden wieder Ermittlungen aufgenommen.“ Sprecherin des österreichischen Bundeskriminalamts
Ein Problem bei Cold Cases können Spuren zu zwischenzeitlich Verstorbenen sein. In Österreich gilt, wie in Deutschland auch, der Rechtsgrundsatz: “Gegen Tote wird nicht ermittelt”. Warum gegen? Wenn Ermittlungen zur Aufklärung eines Falles beitragen, wären diese hilfreich. Selbst wenn die Täterschaft ausgeschlossen werden kann, aber auch im Sinne der Opfer und Angehöringen. Lesen Sie hier: Was steckt hinter dem Rechtsgrundsatz und darf gegen Tote tatsächlich nicht ermittelt werden?
Manfred N. begeht am 31. Oktober 1979 im Alter von 37 Jahren Selbstmord – in der unmittelbaren Nähe von Elsbethen, wo paar Jahre zuvor ein Mädchen in ein Auto gezerrt und vergewaltigt worden war. N. wird in Salzburg beerdigt.
Ob das österreichische Cold-Case-Management noch neue Hinweise bekommen wird, wird die Zeit bringen. Alle Ermittlungsergebnisse von damals stehen nicht mehr zur Verfügung. Ein Teil der Akten sei beim Umzug der Gendarmerie in Dienstgebäude der Polizei abhanden gekommen, heißt es weiter aus den Polizeikreisen.
In einem Absatz dieses Artikels wird das Thema Suizid thematisiert. Es kann vorkommen, dass Menschen, die keinen Sinn mehr in ihrem Leben sehen, nach dem Lesen eines solchen Textes über diesen sinnlosen Schritt nachdenken. Wenn Sie Hilfe brauchen, wenden Sie sich bitte an die Telefonseelsorge. Diese erreichen Sie unter folgenden Telefonnummern: 0800 1110222 (katholisch), 0800 1110111 (evangelisch). Die Deutsche Depressionshilfe ist unter der Nummer 0800 3344533 erreichbar. Die österreichische Telefonseelsorge hat die Nummer 142.
Cold Cases: Der Feind ist die Zeit
Der langjährige Mordermittler Peter Hagl erklärt im Exklusiv-Interview, warum alte Fälle schwierig aufzuklären sind.
Von Michi Jo Standl
Alte Fälle aufzuklären, gestaltet sich mangels Spuren oft schwierig. “Man muss sich das so vorstellen: Früher sind Ermittler und Spurensicherer schonmal nach der Kirche im Sonntagsanzug zum Tatort gefahren, haben ein paar Fotos gemacht hat – das war’s”, erzählt der Kriminalbeamte Peter Hagl. Der Nürnberger war jahrelang Mordermittler, ist derzeit beim Staatsschutz tätig.
„In der Regel gehen Ermittlungen in Cold Cases von der Staatsanwaltschaft aus.“ Peter Hagl, langjähriger Ermittler
Cold Cases: Die Mär vom einsamen Wolf
Ein Kommissar, Einzelkämpfer, Lederjacke mit aufgestelltem Kragen stößt durch Zufall auf einen alten Fall, hat sogar eine persönliche Beziehung zu einem Angehörigen des Opfers, fängt an zu ermitteln? “So etwas gibt es nur im Film. Cold Case-Ermittlungen müssen schon ihre behördlichen Wege gehen”, erklärt Hagl. “Den Anstoß kann schon auch ein Polizist geben, muss das aber mit der Staatsanwaltschaft absprechen.” Diese entscheidet dann, ob Hinweise relevant genug für erneute Ermittlungen sind. Danach gibt der Staatsanwalt den Fall für erneute Ermittlungen frei. “Meistens geht die Initiative aber von der Staatsanwaltschaft selbst aus”, erläutert Hagl.
Am Herzen liegt dem erfahrenen Ermittler die Praxis, mit der in Deutschland Cold Cases bearbeitet werden. Einem Bericht der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) zufolge gelten in Deutschland über 3.000 Tötungsdelikte als ungeklärt. “Während es in Österreich beim Bundeskriminalamt ein eigenes Cold Case-Management gibt, werden in Deutschland einem aktuell “heißen” Fall zwei bis drei Beamte zugeteilt, die dann neben ihrem Tagesgeschäft ermitteln.”
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